Neujahrswünsche
Herr,
setze dem Überfluss Grenzen
Und lass die Grenzen überflüssig
werden.
Lass
die Leute kein falsches Geld machen,
aber auch das Geld keine
falschen Leute.
Nimm
den Ehefrauen das letzte Wort
und erinnere die Männer an ihr
erstes.
Schenke
unseren Freunden mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde.
Bessere
solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute, die wohl tätig,
aber
nicht wohltätig sind.
Gib
den Regierenden ein besseres Deutsch
und den Deutschen eine
bessere Regierung.
Herr,
sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen.
Aber nicht
sofort.
Amen.
(Pfarrer Hermann Kappen von St. Lamberti zu Münster 1883)
So sah der letzte Sonnenuntergang im vergangenen Jahr von unserer Wohnung aus:
Und hier zum Jahresbeginn noch ein Text von Julia Engelmann:
„Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können. Ich, ich bin der Meister der Streiche, wenn's um Selbstbetrug geht. Bin ein Kleinkind vom Feinsten, wenn ich vor Aufgaben steh. Bin ein entschleunigtes Teilchen, lass mich begeistern für Leichtsinn – wenn ein and'rer ihn lebt. Und ich denke zu viel nach. Ich warte zu viel ab. Ich nehm' mir zu viel vor – und ich mach davon zu wenig. Ich halt mich zu oft zurück – ich zweifel alles an, ich wäre gerne klug, allein das ist ziemlich dämlich. Ich würde gern so vieles sagen aber bleibe meistens still, weil, wenn ich das alles sagen würde, wär das viel zu viel. Ich würd' gern so vieles tun, meine Liste ist so lang, aber ich werd eh nie alles schaffen – also fang ich gar nich' an. Stattdessen häng' ich planlos vor'm Smartphone, wart' bloß auf den nächsten Freitag. Ach, das mach' ich später, ist die Baseline meines Alltags. Ich bin so furchtbar faul wie ein Kieselstein am Meeresgrund. Ich bin so furchtbar faul, mein Patronus ist ein Schweinehund. Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf. Mein Dopamin, das spar ich immer –falls ich's nochmal brauch. Und eines Tages werd' ich alt sein, oh Baby, werd' ich alt sein und an all die Geschichten denken, die ich hätte erzählen können. Und du? Du murmelst jedes Jahr neu an Silvester die wieder gleichen Vorsätze treu in dein Sektglas und Ende Dezember stellst du fest, dass du Recht hast, wenn du sagst, dass du sie dieses Jahr schon wieder vercheckt hast. Dabei sollte für dich 2013 das erste Jahr vom Rest deines Lebens werden. Du wolltest abnehmen, früher aufstehen, öfter rausgehen, mal deine Träume angehen, mal die Tagesschau sehen, für mehr Smalltalk, Allgemeinwissen. Aber so wie jedes Jahr, obwohl du nicht damit gerechnet hast, kam dir wieder mal dieser Alltag dazwischen. Unser Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft uns auf. Unser Dopamin das sparen wir immer, falls wir's nochmal brauchen. Wir sind jung, und ham' viel Zeit. Warum soll'n wir was riskieren, wir woll'n doch keine Fehler machen. wollen auch nichts verliern. Und es bleibt so viel zu tun, unsere Listen bleiben lang und so geht Tag für Tag ganz still ins unbekannte Land. und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können. Und die Geschichten, die wir dann stattdessen erzählen werden – traurige Konjunktive sein wie: "Ein mal bin ich fast einen Marathon gelaufen und hätte fast die Buddenbrooks gelesen und einmal wär' ich beinah bis die Wolken wieder lila war'n noch wach gewesen und einmal, fast hätten wir uns mal demaskiert und gesehen wir sind die gleichen und dann hätten wir uns fast gesagt, wie viel wir uns bedeuten. "werden wir sagen. Und das wir bloß faul und feige waren, das werden wir verschweigen, und uns heimlich wünschen, noch ein bisschen hier zu bleiben. Wenn wir dann alt sind – und unsere Tage knapp, und das wird sowieso passier'n, dann erst werden wir kapier'n, wir hatten nie was zu verlier'n – denn das Leben, das wir führen wollen, das können wir selbst wählen, also lass' uns doch Geschichten schreiben, die wir später gern erzähl'n. Lass uns nachts lange wach bleiben, auf's höchste Hausdach der Stadt steigen, lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen. Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reisen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind. Lass ma' an uns selber glauben, ist mir egal ob das verrückt ist, und wer genau guckt sieht, dass Mut auch bloß ein Anagramm von Glück ist. Und – wer immer wir auch war'n - lass mal werden wer wir sein wollen. Wir ham' schon viel zu lang gewartet, lass mal Dopamin vergeuden. Der Sinn des Lebens ist leben, das hat schon Casper gesagt, let's make the most of the night, das hat schon Kesha gesagt, lass uns möglichst viele Fehler machen, und möglichst viel aus ihnen lernen. Lass uns jetzt schon Gutes sähen, dass wir später Gutes ernten. Lass uns alles tun, weil wir können – und nicht müssen. Weil jetzt sind wir jung und lebendig, und das soll ruhig jeder wissen, und – unsere Zeit die geht vorbei, das wird sowieso passier'n, und bis dahin sind wir frei und es gibt nichts zu verlier'n. Lass uns uns mal demaskier'n und dann sehen wir sind die gleichen und dann können wir uns ruhig sagen, dass wir uns viel bedeuten, denn das Leben das wir führen wollen, das könn' wir selber wählen. Also – los, schreiben wir Geschichten die wir später gern erzähl'n. Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein. Und an all die Geschichten denken, die für immer unsere sind.“
Julia Engelmann, beim 5. Bielefelder Hörsaalslam am 7. Mai 2013 -
hier kann man sie sehen und hören:
Julia Engelmann beim Poetry Slam
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